Der Berg ruft. Das wissen wir, seit Luis Trenker, der legendäre Alpinist, der begnadete Regisseur und versierte Schauspieler, dieses Motto auf Zelluloid gebannt hat. Auch die Berge im Zillertal, ganz am Ende, wo sich ein zum Glück noch nicht so immens geschmolzener Gletscher türmt, rufen seit jeher die Wintersportbegeisterten, auch seit Jahrzehnten die Enthusiasten auf den Skibrettern aus dem Großraum Hessen. Genauer: Alt und jung aus dem Verein Frankfurter Sportpresse, der in Hintertux nach Ostern traditionell das beliebte Skiseminar veranstaltet.
Der Berg rief auch in diesem Jahr. Doch viele überhörten die Rufe, die Appelle zur Einladung. Kaum jemand kam, kaum jemand, der der Sportpresse zuzurechnen war. „Heute wird es immer schwieriger, Teilnehmer zu gewinnen“, gestand Walter Mirwald, der Ehrenvorsitzende des Vereins, der die berufliche Beanspruchung und gestiegene Terminhatz der rasenden Reporter als Begründung dafür anführte. Der Senior, als Teamchef in Vertretung des unabkömmlichen Ralf Weitbrecht vor Ort, leitete ein abgespecktes Seminar, ein Mini-Kolloquium. Anfangs elf Teilnehmer, zu unterschiedlichen Zeiten angereist, zum offiziellen Beginn gerade mal neun, am letzten Tag ein übrig gebliebenes Trio.
Die Kleingruppe machte das Beste daraus. Die 46. Auflage der Veranstaltung kochte in der Tat auf Sparflamme. Ohne Zusatzdisziplinen wie früher Schießen oder Tennis. Ohne die Präsenz von Sportartikelfirmen. Ohne den einst beliebten Skitest. Gespräche waren Trumpf. Lokalkolorit rundum die hessische Metropole. Petra Roth, die Ex-Oberbürgermeisterin, treuer Stammgast seit Menschengedenken, bestätigte sich als charmante Erzählerin, Ulrich Müller, der Präsident des Hessischen Turnverband, ein sympathischer Novize, als kundiger Referent – moderiert von Walter Mirwald - über das Innenleben des zweitgrößten Spitzensportverbands der Republik inklusive der Anfänge beim alten Turnvater Jahn.
Und als Überraschungsgast entpuppte sich Ferdinand Dengg, der Hausherr, der plötzlich nach dem Galadinner auftauchte und im freien Vortrag die Truppe unterhielt. Der Inhaber der Luxusherberge Berghof, die sich den Beinamen Crystal Spa & Sports gegeben hat und mit diversen Entspannungsmöglichkeiten glänzt, plauderte an der Seite seiner Gattin Ann-Marie über die Entstehung der Dengg-Dynastie. Er hatte die Lacher auf seiner Seite, als er seinen älteren Bruder Klaus, ein anerkanntes uneheliches Kind seines Vaters, mit der im Tal üblichen Bezeichnung „der Ledige“ erwähnte.
Es war kurzweilig. Wahrlich anders als früher, als bekannte Sportstars die reichlich vertretene Journalistenschar beehrten. „Gold-Rosi“ Mittermaier beispielsweise, Olympiasieger wie Stephan Eberharter, Erhard Keller, Christoph Langen oder berühmte Bergsteiger wie Hans Kammerlander und Peter Habeler.
So änderten sich halt die Zeiten. Was sich nicht ändert, ist leider das wechselhafte Wetter im Hochgebirge. Im Schatten von Olperer und Gefrorener Wand muss man schon Glück haben, um Sonne zu erwischen, also den perfekten Tag für die Piste. Im Wetterroulette diesmal auf die falsche Farbe gesetzt. Kein Hauptgewinn mit Kaiserwetter, nur allenfalls an einem Tag stundenweise optimale Bedingungen, meistens die Niete gezogen: dichte Wolken, viel Nebel, auch Schneefall. Eine stabile Wetterlage, wie gemacht für Glühwein und Hocken am Kamin.
Früher war alles besser. Es gilt nicht für die Kapriolen, die auf das Konto von Petrus gehen. Für andere Gesichtspunkte mag dies in der Retrospektive dies durchaus zutreffen. Die alten Hasen unter den Hintertux-Gästen, Petra Roth und Walter Mirwald, schwelgten mitunter munter in Erinnerungen. Ja, damals war es pompöser, gigantischer, bombastischer. Psychologen beschreiben diesen Effekt so: Wir sehen die Vergangenheit besser, als sie war, um an der Gegenwart nicht zu verzweifeln.
Das Seminar 2023 ist Vergangenheit. Abermals unterstützt von den Zillertaler Gletscherbahnen, gesponsert von der Familie Dengg. Wie sagte einst Uli Gerke, 2001 zum Ehrenteamchef bei seinem Abschied aus tragender Rolle ernannt: „Die Tuxer haben gelernt, dass man Geister, die man rief, nicht mehr los wird.“
Auf ein Neues im neuen Jahr. Der Termin für das Seminar steht: 20. April 2024. Abwarten, was passiert, wenn der Berg ruft.
Hans-Günter Klemm
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